Das Leben aus vollen Zügen genießen – ist das nicht das Schönste überhaupt? Wieso fällt uns das Genießen aber oft so schwer? Und was können wir tun, um wieder mehr Genuss und Lebensfreude zu empfinden? Die Psychologie des Auskostens (Savoring) hat Antworten.
Das erste Schneeglöckchen im noch verschneiten Garten entdecken, einmal wieder ganz bewusst die Rottöne des Sonnenuntergangs auf sich wirken lassen, sich eine Bruckner-Sinfonie in voller Länge ohne Ablenkung anhören – all das kann Genuss sein. Mit den Sinnen ganz den Moment erleben. Doch allzu oft fehlt uns die Muße und die Ruhe, die Schönheit des Augenblicks wahrzunehmen und den Moment voll und ganz auszukosten.
In unserem vollgestopften Alltag fällt es uns oft schwer, zu genießen, Pausen zu machen, auf unser Wohlbefinden zu achten – zu fordernd sind unsere Aufgaben und Pflichten, zu viele Menschen benötigen unsere Aufmerksamkeit und Unterstützung. Wir hetzen von einem Termin zum nächsten, müssen Familie, Job und Freizeit unter einen Hut bringen – doch genau dann ist es wichtig, Zeit für genussvolle Moment einzuplanen.
Das Motto „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“ ist beim Genießen Gift. Denn – Hand aufs Herz – was ist erfüllender, als das Leben aus vollen Zügen zu genießen? Und das geht am besten im Moment, im Hier und Jetzt. Wenn wir alle Dinge, die wir gerne tun, auf später verschieben und immer die To-dos priorisieren, werden wir nie das Leben auskosten können. Und das wäre doch sehr schade und würde uns auf Dauer nicht glücklich machen, wie etliche wissenschaftliche Studien belegen. Alle Lebensbereiche profitieren, wenn wir das Leben genießen: Genuss fördert Lebensfreude, Zufriedenheit, Resilienz und Gesundheit, stärkt den Selbstwert, macht uns gelassener, konzentrierter, neugieriger und beziehungsfreudiger und lässt uns kreativer mit Problemen und Entscheidungen umgehen. Denn unser Gedächtnis speichert, was uns in welchen Situationen gutgetan hat.
Mach dir immer bewusst, dass du dir Genuss nicht verdienen musst. Du musst nicht erst etwas leisten, damit du dir etwas gönnen darfst. Sei nicht so streng zu dir, sondern behandle dich mit Wohlwollen. Das Leben ist dazu da, damit wir es genießen.
Was wir als Genuss empfinden ist dabei so individuell verschieden wie wir selbst. Findet der eine beim Jubeln im Fußballstadion Erfüllung, kann die andere bei einem musikalisch grandiosen Opernabend genießen, geht die eine gerne in der Früh joggen und genießt die Kühle des Morgens, kann sich ein Morgenmuffel darin wohl kaum Genuss vorstellen.
Im allgemeinen Sprachgebrauch verstehen wir unter Genuss oft eine sinnliche Wahrnehmung, einen Moment des Wohlbefindens, zum Beispiel das Entspannungsbad mit den Rosenblüten oder die heiße Tasse Tee auf der Couch nach einem Winterspaziergang.
Die Positive Psychologie definiert Genuss als das bewusste Wahrnehmen und Auskosten von positiven Emotionen. Sie befasst sich mit verschiedenen Facetten von Genuss. Genuss als positive Emotion ist ihrer Auffassung nach essentiell, um unser Leben erfüllter und glücklicher zu machen.
Die US-amerikanischen Sozialpsychologen Fred Bryant und Joseph Veroff sind Vorreiter auf dem Gebiet der Genussforschung. Sie widmeten sich schon Ende der 1980er Jahren der Fragestellung, was Menschen benötigen, um mehr Lebensqualität und -zufriedenheit zu empfinden und welche Rolle das Genießen dabei spielt. Der Begriff „Savoring“ (engl. Auskosten) spielt dabei eine zentrale Rolle. Der Genuss ist dabei der Antipode vom Stress und ein wichtiger Faktor bei der Stressbewältigung.
Wenn wir Glücksmomente achtsam und bewusst erfahren, sie emotional und physisch auskosten, verschaffen sie unserem Leben Sinnhaftigkeit und Bedeutung. Denn dann schätzen wir diese Erfahrungen als wertvoll und einzigartig.
Neben der Definition von Genuss als sinnliche Erfahrung geht der Ansatz des Savorings aber weiter:
Das psychologische Konzept des Auskostens versteht Genuss als komplexen kognitiven und verhaltensbezogenen Gesamtprozess.
Dabei kann Genuss zum einen nach außen, auf eine Situation in der Umwelt, die Genuss verschafft, gerichtet sein: z. B. auf ein schönes Bergpanorama oder den Duft von Sommerregen. Er kann aber auch nach innen weisen, auf positive Gefühle in uns, die wir als genussvoll erleben: z.B. wenn wir auf uns stolz sind, wenn wir eine gute Leistung erbracht haben. Außerdem gibt es verschiedene Dimensionen der Wahrnehmung. Wird Genuss kognitiv erlebt und kann sprachlich ausgedrückt werden, oder liegt der Fokus auf der inneren Wahrnehmung und wird emotional erlebt.
Dazu kommt noch die zeitliche Dimension. Genuss kann sich auf die Vergangenheit beziehen, zum Beispiel wenn wir in einer schönen Erinnerung schwelgen, kann in Form von Vorfreude (z.B. auf ein bevorstehendes Fest) in die Zukunft weisen oder in der Gegenwart verankert sein, wenn wir zum Beispiel eine Sache im Hier und jetzt mit unseren Sinnen genießen (z.B. das köstliche Eis auf unserer Zunge schmilzt).
Allen Genussarten gemein ist, dass wir sie achtsam wahrnehmen müssen. Wenn wir genießen, erleben wir den schönen Moment ganz bewusst und lassen uns von seinen positiven Gefühlen ganz einnehmen. Wir kosten den Moment aus. Und verspüren dann große Freude und Glück.
Welche sind nun die vier Arten des Genießens?
Dankbarkeit ist nach außen gerichteter und kognitiv erfahrbarer Genuss, den wir reflektieren und in Worte fassen können. Wenn wir dankbar sind, entstehen in uns positive Emotionen. Dankbarkeit zu empfinden verschafft uns Genussmomente.
Dabei ist es nicht wichtig, wofür wir dankbar sind. Das können große Dinge sein, wie unsere Kinder, unsere Partner, unser erfüllender Beruf oder einfach, dass wir am Leben sein dürfen. Genauso genussvoll sind aber auch die kleinen Momente, für die wir dankbar sein können: eine warme, weiche Mütze, die uns im Winter wärmt, ein freundlicher Gruß des Nachbarn, eine kleine Aufmerksamkeit der Kollegin auf dem Schreibtisch. Wir können Personen dankbar sein oder etwas Übergeordnetem, dem Schicksal, dem Universum, Gott. In jedem Fall lehrt uns die Dankbarkeit das Genießen, wir empfinden mehr Lebensfreude und inneren Frieden.
Im Flugzeug über den weißen Wolken, auf dem Konzert des begnadeten Pianisten, beim Anblick der filigranen Eisblumen am Fenster, beim ersten Lächeln unseres Kindes – wenn wir über etwas aus unserer Umgebung uns Staunen geraten, bleibt uns sprichwörtlich der Mund offenstehen. Wir finden kaum Worte in Anbetracht der Schönheit, der Erhabenheit oder der Großartigkeit des Ereignisses, das wir bewundern. Ein „Wow“ oder „unglaublich“ sind auch genug, denn wir erleben den Genussmoment ganz intensiv in uns und spüren ihm emotional nach.
Vielen von uns fällt es schwer, auf sich stolz zu sein. Wir reden uns ein, dass wir das nicht verdient haben, dass unsere Leistung doch nicht der Rede wert sei. Totaler Quatsch! Wir sollten solche Gedanken schleunigst verbannen, wenn wir Genuss erleben wollen. Denn auch Stolz ist eine Variante von Genuss. Auf sich stolz zu sein ist eine nach innen gerichtete Form des Genießens. Wir müssen ihn aber kognitiv erfassen, uns muss also bewusst sein, dass wir eine gute Leistung erbracht haben, für die wir uns selbst loben können. Wenn wir das lernen, können wir uns öfters feiern und genießen so das Leben umso mehr.
Wenn wir mit unseren Sinnen genießen, erleben wir Genuss auch emotional, aber unsere Aufmerksamkeit ist dabei ganz nach innen, auf unsere Empfindungen gerichtet. In diese Genuss-Kategorie gehören die bekannten Wohlfühlmomente, wie das Entspannungsbad, das Glas Rotwein nach einem anstrengenden Arbeitstag oder die wärmenden Sonnenstrahlen auf der Haut. Das sinnliche Genießen bringt uns ganz zu unseren positiven Emotionen. Wir sind ganz im Hier und Jetzt, zu viele Worte und Gedanken würden nur stören.
Bryant und Veroff entwickelten drei grundsätzliche Strategien, um das Genießen langfristig und nachhaltig im Leben zu verankern und zu intensivieren:
Aus diesen Grundsätzen kann man zehn konkrete Denk- und Verhaltensweisen ableiten, die das Genießen verlängern und vertiefen können.
Wenn wir das Positive in unserem Leben mit anderen Menschen teilen, wirkt das wir ein echter Lebensfreude-Booster. Der Genuss wird tiefer und nachhaltiger. Die Personen müssen nicht mal im Moment des Genusses anwesend sein, es genügt schon, wenn wir dann an sie denken und sie so ein Teil unsere Genusserlebnisses werden. Erstaunlicherweise müssen uns die Menschen, mit denen wir unsere positiven Erlebnisse teilen, nicht mal besonders nahe und vertraut sein. Die Hauptsache ist, dass sie uns gegenüber positiv und zugewandt reagieren. Da kann es förderlicher sein, unseren Genuss mit den Kolleginnen zu teilen als mit dem griesgrämigen Ehemann.
Wir können Genussmomente verlängern, indem wir sie als Erinnerungen festhalten. Das funktioniert ganz klassisch in Form von Fotos oder Videos, in einem Album oder auf Rechner oder Smartphone. Oder, indem wir ein paar für uns sehr bedeutungsvolle Gegenstände als Erinnerungen aufheben, zum Beispiel die Muschel vom Strand in Vietnam oder den ersten Papierflieger, den wir zusammen mit unserem Kind gebastelt haben. Am allerwichtigsten ist es aber, Erinnerungen in uns selbst abzuspeichern. Wenn wir ganz bewusst den Augenblick erleben, mit allen Details, Farben, Tönen, Gerüchen etc., wenn wir innehalten und eine Momentaufnahme „knipsen“, können wir später auf diesen Genussmoment zurückgreifen und uns immer wieder daran erfreuen.
Wenn du etwas gut gemacht hast, kannst du auch stolz auf dich sein. Ob das die bestandene Prüfung ist, die gelungene Rede auf der Hochzeit deiner besten Freundin oder dass du endlich mehr Sport machst, wie du es dir seit Jahren vornimmst – feiere dich und genieße deinen Erfolg! Und mach dich frei davon, dass das Eigenlob egoistisch, arrogant und überheblich wirken könnte. Ist es nicht, du hast es dir verdient.
Trainiere das Genießen, indem du dich ganz auf deine Sinne konzentrierst. Lass dich nicht von anderen Dingen ablenken, halte inne und schärfe deine Wahrnehmung. Was passiert in diesem Moment genau? Was siehst, hörst, schmeckst, reichst und fühlst du? Wie fühlt sich das an?
Beim Genießen sind zu viele Gedanken oder gar Grübeln fehl am Platz. Versuche, ganz in der Situation zu sein, wenn du etwas Positives erlebst. Fühle den Moment, lass dich in ihm treiben. Höre auf deinen Bauch und dein Herz. Alle Gedanken und Sorgen haben jetzt mal Pause.
Genuss und Freude sollten wir immer auch körperlich ausdrücken, denn das verstärkt das schöne Erlebnis und auch unsere Erinnerung daran. Also: Arme hochreißen, lachen, jubeln, strahlen, klatschen, hochhüpfen oder tanzen – tu das, wonach dir ist, das, was dir guttut, und koste so den Moment auch mit deinem ganzen Körper aus.
Dankbarkeit ist eine der wichtigsten Genussstrategien. Wir können für so vieles dankbar sein: für kleine wertvolle Alltagsmomente, für die Unterstützung anderer Menschen, für ein erfülltes Sein auf dieser Welt. Wenn wir uns immer wieder bewusst machen, was wir alles besitzen und eine dankbare Haltung einnehmen, gewinnen wir innere Zufriedenheit und Lebensfreude.
„Verweile doch, du bist so schön!“ Auch wenn wir uns wünschen, dass ein Genussmoment nicht mehr vergehen möge, sollten wir uns immer bewusst sein, dass das nicht möglich ist. Denn ein Augenblick ist flüchtig und vergänglich. Umso mehr sollten wir ihn voll und ganz auskosten und uns das Wertvolle stets bewusst machen. Darauf können wir dann später zurückgreifen, zum Beispiel: „Ich genieße jetzt den Ausflug mit meinen Enkelkindern – daran werde ich mich gerne erinnern, wenn sie wieder fort sind in ihrer Heimatstadt.“
Mit Vergleichen sollten wir im Normalfall eher sparsam umgehen, doch manchmal können sog. „Abwärtsvergleiche“ auch helfen, zu genießen und das Positive auszukosten. „Wie gut es mir heute geht, weil ich weniger arbeite – das war im alten Job mit den ganzen Überstunden wirklich noch ganz andres.“ Wenn man zum Beispiel eine vergangene Situation, die weniger positiv war, mit der gegenwärtigen vergleicht, die eigentlich doch gar nicht so schlecht ist, kann das die Lebensfreude stärken.
Manchmal sind wir wirklich gut darin, uns den Genuss selbst zu nehmen. Wir suchen überall Fehler, sind unachtsam, unterdrücken Gefühle, grübeln – das Genießen hat es dann schwer. Wenn wir ständig denken, dass es woanders besser sei, können wir nicht den Moment auskosten. Wir verhindern so selbst, dass wir Freude empfinden. Wir sollten also unseren eigenen genussfeindlichen Tendenzen auf die Spur kommen und versuchen, sie zu ändern. Dann werden wir belohnt mit schönen Momenten und stärkenden Erinnerungen.
Wenn du die Genuss-Strategien erfolgreich in dein Leben integrieren willst, mach dir bewusst, dass es dafür Zeit und Training braucht. Es sind auch beim Genießen noch kein Meister und keine Meisterin vom Himmel gefallen. Je mehr Strategien du nutzt, desto intensiver und nachhaltiger werden deine Genusserlebnisse. Und die steigern dein Wohlbefinden, deine innere Zufriedenheit und deine Lebensfreude dauerhaft.
Die Welt gehört dem, der sie genießt.
Giacomo Leopardi
Lust auf mehr positive Denkanstöße in Beiträgen, Podcasts, Videos und Lebensweisheiten? Bestelle den kostenlosen PAL-Newsletter und werde eine oder einer von 40.000 Abonnenten.
PAL steht für praktisch anwendbare Lebenshilfe aus der Hand erfahrener Psychotherapeuten und Coaches. Der Verlag ist spezialisiert auf psychologische Ratgebertexte für psychische Probleme und Krisensituationen, aber auch auf aufbauende Denkanstöße und Inspirationen für ein erfülltes Leben. Alle Ratschläge und Tipps werden auf der Grundlage der kognitiven Verhaltenstherapie, der Gesprächstherapie sowie des systemischen Coachings entwickelt. Mehr zu unserer Arbeit und Methodik hier
PAL Verlagsgesellschaft GmbH
Rilkestr. 10, 80686 München
Tel. für Bestellungen: +49 89/ 901 800 68
Tel. Verlag: +49 89/379 139 48
(Montag–Freitag, 9–13 Uhr)
E-Mail: info@palverlag.de
palverlag.de
partnerschaft-beziehung.de
lebensfreude-app.de
praxis-und-beratung.de
Hinterlasse einen Kommentar und helfe anderen mit deiner Erfahrung.
Ganz herzlichen Dank für den vielseitigen Inhalt. Es gibt so wenig mails-eigentlich kenne ich sonst gar keine – die nur Positives, Hilfreiches und Sinnvolles enthalten. Danke für die unbändige Energie und Zugewandtheit die sie uns lesen schenken!
Die Genuß-Ratschläge sind super. Teilweise wende ich diese bereits an und es tut sehr gut, bringt eine Zufreidenheit mit.
Ich bin bereits seit Jahren Fan Ihres Kalenders den ich immere wieder gerne
lese.
Vielen Dank für die vielen kleinen Hinweise.
Mit herzlichen Grüßen
U. Wagner